99 Fragen Archiv (2021–2022)
Das Museum neu denken
99 Fragen im Humboldt Forum kombiniert verschiedene Formate von Dialogen, thematischen Podcasts, Workshops und Residenzen. In Anbetracht der historischen und gegenwärtigen Auswirkungen des Kolonialismus beleuchtet die Reihe Fragen zu vergangenen und zu zukünftigen musealen Praktiken.
Seit der Eröffnung der Ausstellungen der Staatlichen Museen zu Berlin werden im Humboldt Forum zahlreiche Objekte gezeigt, die während des Kolonialismus unter oft asymmetrischen Machtverhältnissen, teils auch gewaltsam, nach Europa gelangt sind. Die Objekte, die zahlreiche Bedeutungen in sich tragen, sind durch ihre Präsenz in Museen ein Symbol für eine Auslöschung von Wissen, Sprachen und Praktiken. Ferner stehen sie für einen Kontext von Ungerechtigkeit und Gewalt – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Die verschiedenen 99 Fragen Formate zielen darauf ab, die Werte und Grundlagen von Museen, insbesondere von ethnologischen Museen und ihren kolonialen Verflechtungen, kritisch zu betrachten.
Gemeinsam mit unterschiedlichen Expert*innen wirft 99 Fragen weitere Fragen zum sich wandelnden Umgang mit dem Verständnis von Sammlungen, Repräsentationen, Sprachen und Epistemologien, Wissensformen und Teilhabe von Gemeinschaften auf. In ihrer Kombination, streben die verschiedenen Formate danach ecologies of knowledges („Wissensökologien“) hervorzuheben und einen Raum für ein kollektives Lernen und Veränderung zu schaffen.
Teilnehmer*innen 2021 und 2022
Ein herzlicher Dank geht an die vielen Teilnehmer*innen, die einen Beitrag zu 99 Fragen geleistet haben, und ohne die unsere Formate nicht möglich gewesen wären:
Amber Aranui, Wiebke Ahrndt, Morehshin Allahyari, Jason Allen-Paisant, Eliza Apperly, Ash Baccus-Clark, Kathleen Bomani, Tegan Bristow, Jim Chuchu, Evelien Campfens, Malcom Ferdinand, Osaisonor Godfrey Ekhator-Obogie, Macarena Gómez-Barris, Ana María Gómez López, Bernhard Heeb, Flavia Heins, Emmanuel Kasarhérou, Naazima Kamardeen, Wandile Kasibe Feven Keleta, Lars-Christian Koch, Miranda Lowe, Sima Luipert, Anne Luther, Sharon Macdonald, Janet Marstine Nandiuasora Mazeingo, Hadji Malick Ndiaye, Molemo Moiloa, Minakshi Menon, Mpho Matsipa, Njoki Ngumi, Temi Odumosu, Prasanna Oommen, Alexis Th. von Poser, Ciraj Rassool, Viola Rosenau, Zoé Samudzi, Lethabo Sekhu, Boaventura de Sousa Santos, Chao Tayiana Maina, Winani Thebele, Sabine Tschorn
99 Fragen – Dialoge
99 Fragen Dialoge ist ein diskursives und dialogisches Format. In monatlichen Dialogen werden verschiedenen Gesprächsteilnehmer*innen und Diskutant*innen eingeladen. Die Veranstaltungen finden als Livestream statt und sind daraufhin als Aufzeichnung auf YouTube und unserer Website abrufbar.
Im Jahr 2021, inmitten der Pandemie, begannen die Gespräche der Dialogreihe digital. Die erste Veranstaltung Status Quo war einem kritischen Verständnis von kolonialen Geschichten und ihren Auswirkungen gewidmet. Der anschließende Dialog Spurensuche Wohin? befasste sich mit dem Ziel vieler Museen kollaborative Ansätze in Provenienzforschung und kuratorischer Praxis zu finden. Die darauffolgende Veranstaltung Wir reden über Menschen nahm die Notwendigkeit in den Blick einen Ansatz zu entwickeln, um sich mit sensitive heritages („sensibles Erbe“), wie beispielsweise ancestral remains („Gebeine von Vorfahren“), auseinanderzusetzen. Darüber hinaus wurde die Dringlichkeit thematisiert, neue Beziehungen mit unterrepräsentierten Gruppen und Gemeinschaften zu identifizieren und etablieren. Die Notwendigkeit eines neuen Vokabulars in Bezug auf Restitutionen wurden im Dialog Recht und Gerechtigkeit betont, indem die Konzepte von restorative justice („wiederherstellende Gerechtigkeit“) und Third World Approach to International Law („Dritte Welt Ansatz im Völkerrecht“) vorgestellt wurden. Die letzte Unterhaltung im Jahr 2021 konzentrierte sich unter dem Titel Decoding the Museum auf den anhaltenden und oft unhinterfragten Vorgang der Digitalisierung von Sammlungen. Dabei wurden besonders die Rolle von voreingenommen Algorithmen und der Fortführung gewaltsamer Repräsentationsformen diskutiert.
Im Jahr 2022 wurde die Reihe mit Gardens of Empire und (De)Koloniale Ökologie fortgeführt. Inhaltlich befassten sich die Gespräche mit dem kolonialen Erbe in den Naturwissenschaften und wie es Museen, Archive und Sammlungen durchdringt. Die zweite Veranstaltung wurde zusätzlich von Jason Allen-Paisants Gedichten aus dem Band Thinking with Trees gerahmt. Die Ethik von Beziehungen in ihren Praktiken und Prinzipien wurde in der nächsten Veranstaltung unter dem Namen Neue Verbindungen eingeleitet. Insbesondere sind Kulturinstitutionen und Museen herausgefordert im Umgang mit kolonialen Kontinuitäten, ein ethisches Verständnis zu entwickeln, wie neue Beziehungen gestaltet werden können. In seinem Vortrag Dekolonisierung der Geschichte sprach Boaventura de Sousa Santos darüber, dass Geschichte keine vereinzelte Erzählung über eine Vergangenheit ist, sondern eine Verflechtung von unterschiedlichen miteinander verknüpften Begebenheiten.
Im Anschluss an die Veranstaltung im April zu dem Thema der Ethik von Beziehungen konnten sich Studierende der Cape Town University und der Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro in mehreren Workshops weiterführend mit ethischen Beziehungen beschäftigen und werden ihre Erkenntnisse in der Juni Veranstaltung Neues Museum, neue Ethik präsentieren.
99 Fragen – Gathering
99 Fragen – Podcast
Der 99 Fragen Podcast bietet die Möglichkeit, mit wechselnden Moderator*innen und unterschiedlichen Gästen vertiefend in die Themen der Reihe einzusteigen. In verschiedenen Folgen thematisieren die Gäste die Verbindungen von Museen und Kolonialismus, geben persönliche Erfahrungen wieder und diskutieren, wie eine kuratorische Praxis und eine Welt von morgen aussehen können.
Die ersten fünf Podcast-Folgen wurden in thematischer Anlehnung an die ersten fünf 99 Fragen Dialoge von Feven Keleta moderiert. Im Rahmen der 99 Fragen Residenz von Chao Taiyana Maina and Molemo Moiloa von Open Restitution Africa entstand die fünfteilige Mini-Serie Access for who?, die sich mit Fragen zur Fürsorge und Ethik bei der Digitalisierung von Kulturerbe aus Afrika befasst.
Decolonial Ecologies, die dritte Ausgabe des 99 Fragen Podcasts, wurde von der Forscherin, Kuratorin und Künstlerin Aouefa Amoussouvi kuratiert und moderiert. Die sechsteilige Reihe beschäftigt sich mit diversen dekolonialen Praktiken für nachhaltigen und inklusiven Umweltschutz im Globalen Süden sowie im Globalen Norden. Zudem thematisiert sie verschiedene Machtdynamiken und deren Verstrickungen mit der Ökologie als akademische wissenschaftliche Disziplin.
99 Fragen – Residenzen und Workshops
Die 99 Fragen Residenzen und Workshops sind ein Raum, der neben den anderen Formaten für den Aufbau von interdisziplinären und nachhaltig gestalteten Kooperationen steht. Sie sollen die Möglichkeit bieten, einerseits die Aufmerksamkeit auf verschiedene Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu lenken und andererseits einen Raum für zukünftige Zusammenarbeit zu schaffen. Des weiteren sollen die Residenzen als Plattform fungieren, die einen zwischenmenschlichen Austausch zu Überschneidungen und Übereinstimmungen scheinbar verschiedener (persönlicher) Geschichten und kollektiven Erinnerungen entstehen lässt. In den Residenzen soll voneinander gelernt werden und aus gemeinsamen Dialogen sollen gemeinsame Ideen hervorgehen.
Die digitalen und Vor-Ort-Aufenthalte stehen einem breiten Spektrum von Personen aus verschiedenen Bereichen offen. Die Stipendien werden unter anderem für künstlerische und (nicht-)akademische Forschung, community engagement („gesellschaftliches Engagement“), Kunsthandwerk und weitere Disziplinen oder Praktiken gewährt.
Open Restitution Africa
Was der Algorithmus nicht sieht – Zugang für wen?
Digitale Residenz: August 2021 – Januar 2022
In ihrer Residenz wollen die beiden Gründerinnen von Open Restitution Africa, Molemo Moiloa und Chao Tayiana Maina, eine Diskussion über die Digitalisierung von Sammlungen des afrikanischen Kulturerbes anstoßen. Anhand von Recherchen und Diskussionen versuchen sie, die notwendige Sorgfalt und Ethik bei der Digitalisierung des afrikanischen Kulturerbes, insbesondere im Zeitalter der Restitution, herauszuarbeiten. Während die Digitalisierung oft als Strategie für eine zukunftsorientierte sichere Aufbewahrung, Verbreitung und ein größeres Engagement angesehen wird, fragen sie: Für wen? Und: Für welche Zwecke? Und: Treffen wir Entscheidungen über die Digitalisierung, die sicherstellen, dass diese Ziele auf ethische und gerechte Weise erreicht werden?
Unter Berücksichtigung der Positionen von Expert*innen aus dem gesamten Spektrum des Kulturerbes, der digitalen Technik, des geistigen Eigentums und der Museumsarbeit untersuchen sie die schwierigen Fragen, die die Digitalisierung des afrikanischen Kulturerbes aufwirft und denken gemeinsam mit Kollaborateur*innen darüber nach. Darüber hinaus befassen sie sich mit den zahlreichen – teils einfachen, teils erweiterten – Vorschlägen, wie diese Arbeit in Zukunft besser zu bewältigen ist.
Open Restitution Africa ist ein aus Afrika geleitetes Projekt, das den Zugang zu Informationen über die Restitution afrikanischer materieller Kultur und menschlicher Vorfahren öffnen soll, um allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, wissensbasierte Entscheidungen zu treffen. Das Open Restitution Africa Projekt sammelt Daten über aktuelle Restitutionsprozesse auf dem gesamten afrikanischen Kontinent und entwickelt zugängliche Formate für den Informationsaustausch zu Restitutionsfragen. Mit seinem Wachstum will das Projekt als Portal für Fallstudien und Best-Practice-Beispiele dienen, um eine datengestützte, tiefgreifende und herausfordernde Debatte über die Komplexität, die Verantwortung und die ethischen Gebote der Restitution zu fördern.
Das Projekt Open Restitution Africa wurde 2020 im Rahmen einer Partnerschaft zwischen African Digital Heritage mit Sitz in Nairobi und der in Johannesburg ansässigen Data-Impact-Agentur Andani Africa ins Leben gerufen, um das Projekt Open Restitution Africa zu entwickeln. Als eine Initiative, die von zwei von Frauen geleiteten Einrichtungen auf dem afrikanischen Kontinent vorangetrieben wird, zentriert das Projekt afrikanisches Wissen und Kapazitäten zu Restitutionsfragen.
Molemo Moiloa
Molemo Moiloa verfügt über umfangreiche Erfahrungen im Non-Profit-Kulturbereich in Südafrika. Sie arbeitet auf dem gesamten afrikanischen Kontinent und im globalen Süden an Programmen zur Förderung des sozialen Wandels durch Kunst. Molemo ist Mitgründerin des Projekts Open Restitution Africa, Forschungsleiterin bei Andani.Africa, Dozentin für Kunstgeschichte an der Wits University und eine Teil der Künstler-Kollaboration MADEYOULOOK.
Chao Tayiana Maina
Chao Tayiana Maina ist eine erfahrene Expertin für digitales Erbe und Wissenschaftlerin für digitale Geisteswissenschaften. Sie ist die Gründerin von African Digital Heritage, einer gemeinnützigen Organisation, die einen kritischeren und ganzheitlicheren Ansatz bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Lösungen für das afrikanische Kulturerbe fördern will. Sie ist auch Mitgründerin des Museum of British Colonialism und leitet dort das digitale Engagement.
The Nest Collective
Just Make Another One…
Digitale Residenz: November 2021 – April 2022
„Da eine ausgesprochen langweilige Aufgabe der Dekolonisierungsarbeit darin besteht, imperiale und koloniale Ungerechtigkeit einem Publikum zu erklären, das über die Geschichte westlicher ‚Engagements‘ und ‚Interaktionen‘ mit dem afrikanischen Kontinent mehr oder weniger unwissend ist, ist die Entwicklung von pädagogischen Werkzeugen wie einem Spiel nicht nur eine frivole Verknüpfung von Spieltheorie mit zeitgenössischer Politik, sondern ein nützliches Instrument zum Aufbau von Allianzen und zum Abbau struktureller Ignoranz“, heißt es im Konzept von Jim Chuchu und Njoki Ngumi.
Spiele – ob digital oder analog – können Orte der Introspektion und des Handelns sein. So können Spiele als Werkzeug für gegenseitiges Lernen und als Raum für das Schaffen gemeinsamer Experimente und Empathie verstanden werden. Auf der narrativen Ebene können die Spiele kontroverse intellektuelle, politische und soziale Positionen in Bezug auf die Rückgabe von Objekten und die Rückführung an die Orte, von denen aus sie erworben wurden, herausfordern. Durch die Verwendung visueller Referenzen aus Vergangenheit und Gegenwart können sie jedoch auch alternative Realitäten und Utopien schaffen, die wie ein Balsam für verschiedene Gesellschaften dienen können, denen das Privileg und der Wagemut verwehrt wurde, die Welt um sie herum nach ihrem eigenen Bild zu gestalten.
Können wir also eine bessere Welt schaffen, indem wir Spiele entwickeln und spielen? Die Residenz wird sich mit Fragen über das Potenzial des (Ver-)Lernens durch digitale oder analoge Spiele beschäftigen. Dabei kommen Fragen zu Narration und Vermittlung ebenso ins Spiel wie zu Designprinzipien und Visualisierung.
Während Deutschland als Heimat des modernen Brettspiels gilt, werden Njoki Ngumi und Jim Chuchu von The Nest Collective ihre sechsmonatige digitale Residenz der Erforschung von Spielen und Gamification als eine Möglichkeit widmen, verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit bestimmten Informationen zu erzeugen, die es dem Publikum ermöglichen, sich mit verschiedenen Materialien auf ihre eigene, neue Art und Weise auseinanderzusetzen, sich selbst zu unterrichten und zu verschiedenen Schlussfolgerungen zu gelangen.
The Nest Collective ist ein multidisziplinäres künstlerisches Kollektiv, das eine ganzheitliche Methodik der angewandten Forschung nutzt, um kulturelle Werke in den Bereichen Film, Mode, Literatur und anderen Medien zu schaffen. Diese Interventionen sind so konzipiert, dass sie das Publikum über mehrere Einstiegs- und Reflexionspunkte ansprechen und so eine differenzierte Betrachtung, Diskussion und Debatte der aufgeworfenen Fragen ermöglichen, ohne den ästhetischen und künstlerischen Wert des Werks zu beeinträchtigen. Die Arbeit von The Nest Collective findet in der Regel mehrere Plattformen für ein Engagement, darunter Wissenschaft und Forschung, Kunst, verschiedene kulturelle Treffpunkte, Diskussionen in der Zivilgesellschaft und Plattformen der Mainstream-Medien. Neben vielen anderen Projekten nimmt The Nest Collective an der Documenta 2022 teil.
Dr. Njoki Ngumi
Dr. Njoki Ngumi ist Schriftstellerin und feministische Denkerin, die in Kenia im privaten und öffentlichen Gesundheitswesen beschäftigt war. Sie ist Gründungsmitglied von Nest und Koordinatorin für Lernen und Entwicklung bei HEVA – Afrikas erstem Katalysatorfonds für die Kreativwirtschaft mit Sitz in Kenia, der in den Sektor der Kreativwirtschaft in der ostafrikanischen Region investiert.
Jim Chuchu
Jim Chuchu ist Filmemacher, Musiker und bildender Künstler und lebt und arbeitet in Nairobi, Kenia. Er ist Mitgründer von The Nest Collective im Jahr 2014 und von HEVA im Jahr 2015. Seine Filme wurden im MoMA, auf den Filmfestivals von Toronto, Berlin und Rotterdam gezeigt, und seine Werke wurden im Museum of Contemporary Photography, im Royal Pavilion and Museums, im Guggenheim Bilbao und im Vitra Design Museum ausgestellt.
Kontakt
Für Fragen und weiteren Informationen zum 99 Fragen Programm stehen wir Ihnen gerne unter [email protected] zur Verfügung.