Wenn das neue Kulturquartier auch kein Humboldt-Museum sein wird, so haben doch Werk und Biografie eine so große ideelle Dimension, dass sie vielfältige Anknüpfungspunkte für die Programmarbeit des Humboldt Forums bieten: Wie komplementäre Größen überführen sie einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Kräfte in ein Ganzes. Auf der einen Seite das mobile, wagemutige Leben des viel gereisten Naturforschers Alexander; auf der anderen Seite das ortstreue, gedankenreisende Wesen des Gelehrten, Spitzendiplomaten, Bildungsreformers
und Initiators der Berliner Museumsinsel Wilhelm: Naturbeschreibungen versus Sprachstudien; Kontemplation versus Unrast des Geistes: »So war es von Kindheit an zwischen uns. Immer der schneidendste Gegensatz und dabei doch ein sehr enges Zusammenhalten.« Spannungen wie Gemeinsamkeiten dieser kosmologischen Denkbewegungen formen so etwas wie Humboldtsche Prinzipien. Viele sind unerhört aktuell und werden prägend für das Programm des Humboldt Forums sein:
Verknüpfung des Ichs mit der Welt
Mit ihrer beispiellosen, selbstreflexiven Weltoffenheit konnten beide Brüder den nichteuropäischen Kulturen unvoreingenommen begegnen – in Auseinandersetzung mit abendländischen Traditionslinien und konträr zum »Mühlraddenken der Europäer«. Sie erkannten die Bedeutung eines interkontinentalen Wissens- und Kulturtransfers und spannten ein globales Informationsnetzwerk zwischen Bombay, Bogotá, Sydney und New York.
Alles ist Wechselwirkung
Ihre mehrdimensionale Beschreibung von Prozessen und Abhängigkeiten, die menschliche und nichtmenschliche Lebewesen einbindet, ist hochaktuell. »Die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen« zeugt von einer dynamisch begriffenen Welt: »Jede Lebensform ist Teil eines komplexen Netzwerks«. Alexander formulierte dies als seine wichtigste Erkenntnis: die innere Verkettung des Allgemeinen mit dem Besonderen, des Kleinen mit dem Großen, des Entfernten mit dem Nahen.
Vielfalt der Anschauungen
Dingen auf den Grund zu gehen erkannten beide Brüder als hochkomplexes Unterfangen, da ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Gestalten und in unterschiedlichen Kontexten wahrnehmbar ist. Ihr Mut zu einer zukunftsorientierten und progressiven Grundhaltung beweist sich in der für ihre Zeit geradezu visionären Benennung geoökologischer Probleme, im Umgang mit Kriterien wie Verträglichkeit und Nachhaltigkeit, in der klaren Kritik kolonialer Machtstrukturen und in der Befürwortung einer multipolaren Welt.
Wissen ist Macht
Der Wille, durch fragendes Forschen und forschendes Lernen etwas zu bewirken, gesellschaftlich relevant zu sein, Anregungen zum kritischen Denken zu geben, ist die tragende Leitidee für das Wirken beider: Wer spricht aus welcher Perspektive? Wer bestimmt, was Welt ist? Welche Halbwertzeiten haben wissenschaftliche Erkenntnisse?
Wissen popularisieren und teilen
Das Interesse der Humboldt-Brüder galt dem Öffnen neuer, kostenfrei zugänglicher Räume für ein breites Publikum, aber auch einer anschaulichen, sinnlich vermittelbaren Wissensdarstellung. Ihr transdisziplinäres, nomadisierendes Wissenschaftsverständnis, in dem sich unterschiedlichste Wissensgebiete zwischen Ökologie, Sozial- und Klimaforschung, Ethnologie und Kunstgeschichte, aber auch fachspezifische Methodenansätze durchdringen, baut auf das Prinzip der Arbeitsteilung.
Wir wollen in unserer Programmarbeit im Humboldt Forum diesen und weiteren Humboldtschen Prinzipien folgen, sie unter den Bedingungen und Herausforderungen unserer heutigen Welt anwenden und weiter denken. Dann wird dieser neue Ort kein steinernes Denkmal unserer beiden Namensgeber, sondern ein lebendiges, populäres Forum der
Begegnung, der Debatte, des Staunens und des Lernens, der Erkenntnis und der Zusammenarbeit in einer komplexen, widersprüchlichen und vielfältigen Welt. Und dann wird sich zeigen, wie unerhört aktuell und gültig die Humboldtschen Prinzipien auch zukünftig sind.