Dieser Artikel ist Teil des Features „Was soll das? Das Kreuz auf dem Humboldt Forum

Ein Königtum unter dem Kreuz

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Zur Zeit Ludwigs XIV. herrschte unter den Höflingen in Versailles eine lebhafte Debatte darüber, vor wem die Knie beim Betreten der Hofkirche zuerst zu beugen seien: vor dem Altar oder vor Seiner geheiligten Majestät. Man fand eine salomonische Lösung: Die Höflinge und ihre Damen mögen vor dem König knien, der seinerseits vor dem Altar knie und so die Geste der Verehrung an Gott weiterleite.

Im Preußen des 19. Jahrhunderts waren die Prioritäten klarer geregelt. An der Hofkirche, die König Friedrich Wilhelm IV. von 1845 bis 1854 über dem Westportal des Berliner Schlosses in Gestalt einer Kuppel errichten ließ, prangte eine Inschrift, die besagte, dass alle Knie sich vor Jesus beugen sollten, weil in ihm allein das Heil sei. Denkt man die Aussage des Textes zu Ende, so lautet ihr Fazit, dass die preußischen Untertanen nicht vor dem König, sondern gemeinsam mit dem König vor Gott knien. Kein Herrscher und kein Staat darf sich zum Heilsbringer aufschwingen oder sich als Mittelpunkt der Welt betrachten.

Indem Friedrich Wilhelm zum Ausdruck brachte, dass kein Mensch vor einem anderen das Knie beugen solle und das Heil allein in Gott liege, distanzierte er sich sowohl von Potentaten wie Ludwig XIV., die sich als Mittler zwischen Gott und den Menschen feiern ließen, als auch von Tyrannen und Autokraten wie Robespierre und Napoleon, die, am Anfang einer langen Reihe selbsternannter politischer Messiasse stehend, bereit waren, für ihre Welterlösungspläne Hunderttausende Menschen leben zu opfern. Friedrich Wilhelm selbst war zutiefst davon überzeugt, dass sein Amt lediglich ein Mandat war, das Gott ihm ebenso „verliehen“ hatte wie der Lehnsherr dem Vasallen ein Lehen und für das er in besonderem Maße Rechenschaft abzulegen habe. Diesen Gedanken brachte er auch im Apsismosaik des Charlottenburger Mausoleums zum Ausdruck. Dort ließ er seine Eltern dergestalt verewigen, dass diese nach ihrem Tod Christus die ihnen anvertrauten Königskronen zurückgeben.

Aus diesem Amtsverständnis heraus grenzte sich Friedrich Wilhelm sogar vom Absolutismus seiner eigenen Vorfahren ab. Bekanntlich hatte Preußens erster König Friedrich I. beim Umbau des Berliner Schlosses das westliche Hauptportal von Johann Friedrich von Eosander als einen römischen Triumphbogen ausführen lassen, um sich in die Tradition der antiken Imperatoren zu stellen. Nachdem er 1713 gestorben war, bemühte Eosander sich um die Gunst seines Nachfolgers, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I.

Abschied vom Ruhmestempel

In einer Präsentationsskizze, die er dem neuen König vorlegte, steigerte er den imperialen Gestus des Triumphportals durch das Aufsetzen eines zweigeschossigen Kuppelturms, der, wäre er realisiert worden, eine Höhe von annähernd 80 Metern erreicht hätte. Als Obergeschoss sah Eosander einen Monopteros vor, der dem barocken Typus eines Ruhmestempels folgte. Die Laterne über der Kuppelschale fügte er aus weiblichen Hermenpilastern zusammen, auf denen eine riesige Krone lastete. Den Abschluss sollte eine Wetterfahne bilden, die eine nackte Venus, die Stammmutter der Cäsaren, inmitten einer Strahlenglorie zeigte.

Durch seine Verdienste, so die Quintessenz des Entwurfs, hat das Haus Hohenzollern sich wie die römischen Kaiser ewigen Ruhm und damit auch einen Anspruch auf imperiale Größe erworben; beides schien vom Himmel durch das 1701 entstandene preußische Königtum gewährt worden zu sein. Allerdings hatte Eosander sich gründlich verrechnet. Im Unterschied zu seinem Vater war der Soldatenkönig an monarchischer Repräsentation nicht interessiert. Die ambitionierten Planspiele fielen den Sparmaßnahmen zum Opfer, Eosander kam mit seiner Demission einer Entlassung zuvor.

Das Kuppelprojekt wurde erst wieder akut, nachdem Karl Friedrich Schinkel die mittelalterliche Erasmuskapelle des Schlosses für Wohnzwecke umgebaut hatte. Nun gab es für den Bau einer Kuppel einen praktischen Grund: Raum für eine neue Kapelle zu schaffen. Diese Lösung war von allen denkbaren Varianten die preiswerteste – und die symbolträchtigste. Die Hofkirche wurde zum exponiertesten Raum, anders als in Versailles, wo das Schlafzimmer des Sonnenkönigs den Mittelpunkt der Schlossanlage bildete.

Kaum hatte Friedrich Wilhelm 1840 den Thron bestiegen, fertigte er eigene Entwurfszeichnungen an, wobei er zunächst erwog, Eosanders zweigeschossigen Kuppelturm in verminderter Größe in die Formensprache der Antike zu übertragen (was zeigt, dass Eosanders Präsentationszeichnung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch bekannt war). Allerdings befriedigte das Ergebnis wegen seiner Kleinteiligkeit nicht.

Der Regent leistet Verzicht

Deutlich besser proportioniert war der 1845 von Friedrich August Stüler erarbeitete Ausführungsentwurf. Darüber hinaus hatte Stüler die Kuppel als explizite Antithese zu Eosanders Ruhmestempel konzipiert. Statt ausschließlich dem Prestige des Königs diente sie vorrangig der Ehre Gottes und den kultischen Bedürfnissen der Menschen. An die Stelle übereinandergetürmter Säulenwälder trat ein schlichtes Pfeileroktogon. Die Laterne bestand nicht mehr aus weiblichen Hermen, sondern aus Cherubim. Die Krone wurde gegen Palmzweige, Symbole des himmlischen Friedens und des ewigen Lebens, ausgetauscht, während Venus dem Kreuz weichen musste. Und schließlich wurden die Götterfiguren, die Eosanders Kuppelfuß bevölkerten, durch acht Propheten des Alten Testaments ersetzt. Diese standen den biblischen Erzählungen zufolge meist in Opposition zu den Königen ihrer Zeit, besonders, wenn diese sich nicht an Gottes Gebote hielten. An Stülers Kuppel erschienen sie somit nicht nur als Künder Christi, sondern auch als moralische Wächter und Mahner, ja als Supervisoren des königlichen Regiments.

Freilich enthielt die neue Kuppel auch eine Abgrenzung vom Freiheitsgedanken der Aufklärung und der demokratischen Revolution von 1848. Da Friedrich Wilhelm sich in der Pflicht sah, die ihm von Gott auferlegte Last der Krone bis zu seinem Tode zu tragen, konnte er sie weder weggeben noch ihre Rechte im Rahmen einer Verfassungsänderung schmälern. Beides wäre in seinen Augen ein unstatthafter Akt der Selbstermächtigung gewesen. Ebenso wenig war es ihm möglich, eine Krone aus der Hand eines Menschen anzunehmen, was erklärt, weshalb er die deutsche Kaiserwürde ablehnte, die ihm die Frankfurter Nationalversammlung 1849 antrug. Innerhalb dieser Logik war Friedrich Wilhelms Herrschaftsidee total, aber nicht totalitär. Total, weil sie den König ganz der Herrschaft einer höheren Macht unterstellte; geradezu antitotalitär, weil sie jede Form von Autokratie oder Cäsarenwahn ausschloss. In diesen Zusammenhang sind auch Kreuz und Inschrift einzuordnen. Die Verehrung Jesu durch alle Wesen begründet sich biblisch mit der absoluten Selbsthingabe am Kreuz und dem unbedingten Gehorsam gegenüber Gott. Ebendiese Selbsthingabe und dieser Gehorsam waren auch für Friedrich Wilhelm verpflichtend.

Angesichts dieses kunsthistorischen Befundes erweisen sich die in jüngster Zeit geäußerten Befürchtungen, Kreuz und Inschrift propagierten eine reaktionäre politische Gesinnung und religiöse Intoleranz, die nicht zu einer demokratischen, weltoffenen Gesellschaft passten, als Pauschalisierungen, welche die eben aufgezeigten Sinnschichten verdecken. Unser Anliegen sollte es jedoch sein, möglichst viele Sinnschichten sichtbar zu machen, um so zu jener epochen- und kulturübergreifenden Gesamtschau zu gelangen, die der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ mit dem Bild einer „großen ethnographischen Geisteslandkarte“ umschrieben hat. Sinn einer solchen Karte, die „allen Rassen, Völkern, Sitten und Religionen im Zusammenhang“ gerecht wird, ist es, das Gefangensein in der eigenen Zeitschicht und „Kulturhülle“ zu durchbrechen und das Wissen um Wandel und Vielfalt als den „größten geistigen Besitz“ zu begreifen.

Wie Wandel und Vielfalt angemessen (nach-)vollzogen werden können, hat Friedrich Wilhelm IV. am Eosanderportal demonstriert. Anstatt es ikonographisch zu bereinigen, hat er es durch die Hinzufügung der Kuppel kritisch kommentiert und damit einen Dialog initiiert, den wir aufgreifen können – vorausgesetzt, wir verstehen Dialog nicht als eine Unterhaltung Gleichgesinnter und lassen die Vergangenheit in der ihr eigenen Sprache zu Wort kommen.

Autor*in
Foto von Peter Stephan
Peter Stephan

Peter Stephan ist Professor für Architekturtheorie und Kunstgeschichte an der Fachhochschule Potsdam