Dieser Artikel ist Teil des Features „Starke Typen. Wilhelm und Alexander von Humboldt

Eine ganz moderne Vergangenheit

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Auszug aus der Festrede anlässlich der Feierlichkeiten zum 250. Geburtstags von Wilhelm von Humboldt im Schloss Tegel, Berlin, am 22. Juni 2017.

Es ist eine Herausforderung, einem der größten Intellektuellen des 19. Jahrhunderts in Europa annähernd gerecht zu werden. So vieles ist über ihn als Sprachforscher, als Bildungsreformer und Staatstheoretiker geschrieben und gesagt worden. Was könnte ich also sagen über den großen Wilhelm von Humboldt? Wollte ich über Wilhelms wissenschaftliche Leistungen sprechen, würde ich, wie es so schön heißt, „Wasser in die Donau schütten“. Und so soll ein bauliches und kein wissenschaftliches Werk Wilhelms im Mittelpunkt stehen, das Tegeler Schloss.

 

Ein Opus, das man mit seinen Büchern vergleichen könnte und das in großem Maße viele seiner wissenschaftlichen Werke ermöglicht und mitgestaltet hat. Das neue Tegeler Schloss ist das gebaute Zentrum seiner geistigen Tätigkeit. Es wurde zu seinem Geschöpf, nachdem es 1812 vollständig in seinen Besitz übergegangen war. An diesem Ort haben Alexander und Wilhelm, die beiden Paten des Humboldt Forums, ihre Kindheit verbracht. Und genau an diesem genius loci haben beide Brüder begonnen, jeder auf seine Weise, die Welt größer und vernetzt zu denken.

Außerhalb Deutschlands hat vor allem Alexander die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. – „Alexander stole the limelight“, wie man im Englischen sagt. Als der jüngere Bruder scheint er immer offener und lockerer gewesen zu sein. Wie alle anderen habe ich bewundert, wie kühn sich Alexander aufmachte, entfernte Kontinente zu bereisen: Das Bild von Alexander als romantischer Held, von Glamour umgeben, hat mich lange gereizt. Jedoch bahnten sich beide, Alexander und Wilhelm von Humboldt, ihren Weg durch die Wildnis: Alexander durch das Dickicht des Regenwaldes im Amazonas und Wilhelm als Staatsmann, preußischer Diplomat und Bildungsreformer im märkischen Sand. Erst sehr spät, tatsächlich erst im letzten Jahr, habe ich verstanden, dass es vielleicht Wilhelm war, der sich durch den undurchdringlichsten aller Dschungel geschlagen hat, durch den Dschungel der Berliner Bürokratie.

Was genau ist dieser Spirit, dieser lebendige Geist, der das Haus bewohnt und der hier immer noch spürbar ist? Ich würde vorschlagen, dass das tägliche Miteinander mit den ausgewählten Geistern der Vergangenheit es erlaubt, andere Zukünfte zu erdenken. Das neue Schloss Tegel, das Wilhelm und Caroline zusammen mit dem Architekten Schinkel geplant haben, war ein Bau mit einer ganz spezifischen Absicht. Hier wurden Skulpturen und Gipse aus Rom in einem antikisierenden Ambiente mit baulichen und literarischen Zitaten aus Griechenland zusammengeführt. Den architektonischen Raum, den Schinkel entworfen und gebaut hat, stattete Wilhelm zu einem einzigartigen Denkraum aus. Die antike Welt wurde nicht kreiert, um in der Vergangenheit zu verweilen, sondern ganz im Gegenteil, um eine intellektuelle Revolution zu ermöglichen. Es ging um eine moderne Vergangenheit.

Wilhelm von Humboldt hatte eine Gesellschaft im Umbruch erlebt. Nach den Napoleonischen Kriegen, der französischen Besatzung, der Demütigung Preußens und dem Befreiungskrieg hatte er auf dem Wiener Kongress eine wichtige Funktion eingenommen. Nach 1815 – genau wie im Jahr 1989 – gab es eine neue Geografie Europas und der Welt. Und innerhalb dieser war es nötig, die Rolle von Preußen und der Hauptstadt Berlin neu zu definieren. Es reiften Ideen für eine neue Gesellschaft und für eine neu bewertete, vermittelbare Wissenschaft, die den Menschen begeistern und zu einem mündigen Bürger formen konnte. Hier, in diesem antikisierenden Utopia entwickelte Wilhelm seine zukunftsformenden Gedanken über den Menschen, seine Sprachen und Kulturen und den Staat.

Ein antiker Rahmen für moderne Debatten. Die Ähnlichkeiten des Tegeler Schlosses von 1820 mit dem immer schneller wachsenden Humboldt Forum im Berliner Schloss sind unübersehbar. In beiden Schlössern haben beide Brüder ihren Nachmittagstee getrunken und ihre Forschung vermittelt. Beide Gebäude sind von diesem scheinbaren Widerspruch geprägt, der Gegenwart durch das Vexierglas der Vergangenheit zu begegnen. Ähnlich wie Wilhelm das Tegeler Schloss in antikem Gewand zum Leben erweckte, werden nun auch die historischen Fassaden des Berliner Schlosses einen Raum für neue Gedanken bilden. Im Stadtschloss, genau wie in Tegel, geht es um eine ganz moderne Vergangenheit.

Was bedeutet es, die Gegenwart und die Vergangenheit zu „vergleichzeitigen“? In der Kontroverse um den scheinbaren Widerspruch zwischen den Fassaden des Stadtschlosses und den Debatten des Humboldt Forums wird häufig behauptet, dass die Rekonstruktion eines antiken Gebäudes neuen Gedanken über Gegenwart und Zukunft wenig Raum lässt, dass die Macht der Vergangenheit das Seiende und Werdende in Bedrängnis bringt. Und sind diese klassischen Architekturelemente nicht Ausdruck einer beschränkenden, hegemonischen Vormachtstellung Europas?

Tegel lehrt anderes: Die Gipsgötter Juno und Mars und die neoklassischen Skulpturen des Thorvaldsen waren ständige Hausgäste Wilhelms und Carolines. Weit gefehlt, zu denken, dass diese Gesellschaft Wilhelms Weltsicht auf Rom und die antike Welt des Mittelmeeres beschränken würde. Trotz – oder vielleicht dank – der Nähe zu den antiken Göttern, konnte Wilhelm anthropologisch genauso weltumspannend denken wie sein Bruder Alexander.

Dafür spricht eloquent und überzeugend die Tatsache, dass Wilhelm an seinem Tegeler Schreibtisch, im Schatten der Venus von Milo vor ihm, in ganz andere, weit entfernte Regionen reist. – Er erforscht die Eingeborenensprachen Amerikas – Náhuatl, Huastekisch, Maya, Quechua unter vielen anderen. Unter dem verführerischen Blick der vermutlich nur griechisch sprechenden Göttin Aphrodite bereitete Wilhelm seine Akademie-Vorträge über indische Sanskrit-Dichtung vor. Hier, ganz in ihrer Nähe, untersuchte er die Sprachen Asiens und Polynesiens. Und hier arbeitete er bis zu seinem Tod an einer Studie über die antike Kawi-Sprache von Java. Auf dieser, wie auf allen seinen intellektuellen Reisen, ließ er sich gern von der lächelnden Venus von Milo begleiten.

Die “Entdeckung” der Kultur von Java hatte unmittelbare Folgen für das Selbstverständnis Europas. Thomas Stamford Raffles, Gouverneur von Java, war es, der den buddhistischen Tempel Borobudur entdeckte und ausgraben ließ. Seine “History of Java”, veröffentlicht 1817, ist es zu verdanken, dass Europa eine andere, weit entfernte edle antike Kultur mit einer hochentwickelten, reichen Tradition von Architektur und Skulptur zur Kenntnis genommen hat. Eine Kultur, die sich in enger Verbindung mit Indien entwickelt hatte, genau wie die Sprache Kavi eng mit dem indischen Sanskrit verwandt war. Für Wilhelm wurde das Indische zum Angelpunkt eines Kulturuniversums. Genauso wie sich die griechische Sprache und Kultur über das östliche Mittelmeer und die Inseln verbreitete, hatte sich die indische Kultur über das Meer den ganzen südostasiatischen Raum erobert.

Zum ersten Mal wurde sich Europa darüber bewusst, dass auch andere, weit entfernte Regionen ihr eigenes Mittelmeer besaßen. Ein Meer, das eine Welt für sich bildete. Ein Meer, über das Völker, Kulturen, Religionen und Sprachen wanderten. Den Begriff eines geflügelten Wortes kennen wir seit langem. Hier geht es um gesegelte Worte, die sich über die Meere verbreiten. Unter anderem durch Wilhelm erfuhr Europa mit Erstaunen, dass die Welt mehr als einen Nabel besaß. Davon war Wilhelm tief überzeugt.

Genau wie sein Bruder Alexander die Welt der Pflanzen auf neue Art erforschte, hat uns Wilhelm eine vitale Welt eröffnet, die einem lebenden Organismus gleicht: die der Sprachen. Wie Pflanzen sind Sprachen von ihrer Umwelt bestimmt. Sie sind miteinander und ineinander verwachsen und auseinander hervorgegangenen. Sie verzweigen sich ständig. Zukunftsbestimmend für die heutige Sprachwissenschaft wurde Wilhelms Ansatz, dass jede Sprache in sich ein einzigartiges Verständnis von Welterfahrung trägt. Das heißt, jede Sprache enthält für sich eine Welt, in der man sich bewegen, in die man reisen kann. Ihre Vielfältigkeit und Andersartigkeit ist nur zu entdecken, wenn man sie beherrscht. Die Erbschaft einer Kultur wird nicht allein von den materiellen Hinterlassenschaften definiert, sondern vielleicht vor allem über den Wortschatz und die Syntax. Mit dem Aussterben einer Sprache stirbt unwiederbringlich eine nicht zu ersetzende Lesart dieser Welt, eine Syntax des Lebens.

Die Dissonanz zwischen Form und Inhalt soll provozieren, soll zu einer Dynamik des Widerspruchs führen und Debatten aller Arten ans Haus ziehen.

Durch die Augen einer Fremdsprache sieht man die Welt anders. Am Anfang dieser Rede weigerte ich mich, Wasser in die Donau zu schütten. Hier im sonnigen Elysium von Tegel, wo man an den Türmen des Schlosses die antiken Reliefs vom Turm der Winde bewundern kann, würde man Eulen nach Athen tragen. Diese poetische Umschreibung eines sinnlosen Angebots erzählt viel über die sinnstiftende Rolle der Kultur der Griechen in Deutschland, die so maßgebend für die Architektur Schinkels und Wilhelm von Humboldts Berlin gewesen ist. Die Griechen selbst bringen Krokodile nach Ägypten, die Russen lachen über Leute, die mit dem eigenen Samowar nach Tula fahren, in Moselfranken treibt man Schnecken nach Metz – und in England? Keine Eulen, kein Athen, sondern ganz banal coals to Newcastle. Man könnte meinen, es sei ein geschäftstüchtiges Land ohne Poesie.

Ein Zauber aller Fremdsprachen sind die Nebenbedeutungen der Worte. Auf Englisch bedeutet das Wort Pickle nicht nur sauer eingelegtes Gemüse. Es bezeichnet auch eine problematische, schwer zu beherrschende Situation. Nach einem Jahr in Berlin, wo so häufig vom Flughafen und von der Oper die Rede ist, war ich nicht erstaunt zu lernen, dass das deutsche Pendant “Baustelle” heißt. Aber die Herausforderungen unserer Baustelle im Humboldt Forum sind Probleme, die Wilhelm interessiert hätten. Denn es geht um Sprache und präzise gesagt, um die Bedeutung einer Formensprache.

Wie in Tegel hoffen wir, dass die Diskrepanz auch im Humboldt Forum zu fruchtbaren neuen Ideen führen wird. Die Dissonanz zwischen Form und Inhalt soll provozieren, soll zu einer Dynamik des Widerspruchs führen und Debatten aller Arten ans Haus ziehen. Die Dissonanz gibt dem Zweifel Raum. Das Abwägen von Für und Wider ist eine der grundlegenden Denkbewegungen. Auch hier steht uns der keinesfalls konfliktscheue Freigeist und Universalist Wilhelm von Humboldt hilfreich zur Seite, wenn er sagt: “Zweifel sind nur dem quälend, welcher glaubt, nie dem, welcher der eigenen Untersuchung folgt.”

Die Tatsache, dass es im Humboldt Forum um drei rekonstruierte Fassaden und eine moderne geht, soll den Blick der Besucher und die öffentlichen Debatten schärfen. Die Mischung aus Neubau und historischer Rekonstruktion zeugt von der Zerbrechlichkeit einer Kultur und einer Gesellschaft. Das Humboldt Forum wird die vielfältige Geschichte des Niedergangs des Berliner Schlosses keineswegs leugnen; noch weniger die Gründe seiner Zerstörung. Hier werden auch die anderen Geschichten des Ortes erzählt, der unterschiedlichen genii loci. Das Ganze erzählt davon, wie wichtig es ist, sich als Gemeinschaft zu definieren, nicht zuletzt über Wissen, Kultur und Kunst.

Beiden Brüdern war es wichtig, allen Zugang zu Kunst und Bildung zu ermöglichen. Alexander hielt seine kostenlosen Kosmos-Vorlesungen, an denen die ganze Gesellschaft, vom Zimmermann bis zum König, teilnahm. Wilhelm gründete die Universität als ein Forum der Forschung und des Austausches und das Alte Museum. Als die Antikensammlung und die Gemäldegalerie ihre Türen öffneten, waren beide kostenlos zugänglich. Wilhelm war tief davon überzeugt, dass man nur durch die Selbstbildung auf Andere wirken kann – nicht belehrend, sondern begeisternd, nicht gebietend, sondern anregend zu eigenem Tun: “Ich empfand die Wahrheit, dass der Mensch immer so viel Gutes schafft, als er in sich gut wird.” Hierin zeigt sich die allumfassende Bildungsidee Humboldtscher Prägung. Nur im persönlichen Erleben reift die Gesinnung, moralische und ethische Verantwortung innerhalb einer Gesellschaft zu übernehmen.

In diesem Sinne hoffen wir, dass das Humboldt Forum bald selbst ein Mutterschiff für die vielen erquickenden Ideen, Überzeugungen und Hoffnungen der Humboldt-Brüder sein wird. Sie zeigen den Weg auf, wie man mit Neugier, Verantwortungsgefühl und ohne Vorbehalte die Welt erleben kann. Dies wäre für uns die beste und wirksamste Form der Huldigung, die wir den Brüdern Humboldt anbieten könnten.

Autor*in
Foto von Neil MacGregor
Neil MacGregor

Neil MacGregor, britischer Kunsthistoriker, war von 2002 bis 2015 Direktor des British Museums und bis 2018 Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt Forums.