Dieser Artikel ist Teil des Features „Wilhelm und Alexander von Humboldt

Humboldts Kosmos – Unsere Welt

4 Min Lesezeit
Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden.

Dieser Gedanke Alexander von Humboldts wird ihn getragen haben, als er 1827 im trüben Monat November in Berlin eintraf. Für mehr als zwanzig Jahre hatte er der preußischen Hauptstadt den Rücken gekehrt und in Paris an der Veröffentlichung seiner Schriften gearbeitet. Im Gepäck trug er die nahezu vollständig für den Druck vorbereiteten Tagebücher und Aufzeichnungen der Amerika-Reise. Gedanklich beschäftigten ihn jedoch nicht allein die noch immer lebendig gehaltenen Erinnerungen und Eindrücke seiner Entdeckungs- und Forschungsexpeditionen, sondern auch ein besonders ehrgeiziges Vorhaben: Er war fest entschlossen, seinen Bruder Wilhelm zu unterstützen, um die preußische Landeshauptstadt zu einem Wissenschaftszentrum gedeihen zu lassen; und er hatte ganz konkrete Vorstellungen, wie dies gelingen könnte. Zuallererst mussten die Berliner teilhaben an den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Und um sie für diesen neuen Kosmos der Weltentdeckung begeistern zu können, brauchte es zuallererst eine interessierte Öffentlichkeit.

So wurde die öffentliche Vorlesung zum Resonanzraum Alexander von Humboldts – ein Format, das er ganz bewusst nutzte, um seine Erkenntnisse einem breiten Publikum populärwissenschaftlich verständlich zu machen. In zwei parallel organisierten Vortragsreihen über „physische Weltbeschreibung“ versammelte er im Wintersemester 1827/28 ein breites Publikum vor seinem Rednerpult. Ab dem 3. November 1827 bis zum 26. April 1828 hielt er insgesamt 61 Vorträge vor etwa 400 Studenten und Lehrenden in einem der Hörsäle der Berliner Universität. Parallel dazu sprach er in 16 Veranstaltungen vor jeweils 1.000 Zuhörern in der großen Halle der benachbarten Singakademie – eine bisher unerreichte Zahl an Teilnehmern. Nicht nur Friedrich Wilhelm III. und sein Sohn, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., waren der Einladung Humboldts gefolgt – nein, halb Berlin lauschte dessen Vorträgen, vom Arbeiter oder dem Handwerksmeister bis hin zum Stadtrat und zur Hofgesellschaft.

Wissenschafts- und kulturgeschichtlich sind diese sogenannten „Kosmos-Vorlesungen“ Meilensteine. Der Augenzeuge Alexander von Humboldt sprach frei, und er konnte packend erzählen, erstaunliche Zusammenhänge herstellen und wissenschaftliche Inhalte poetisch begreiflich machen, wie seine Zeitgenossen bestätigen. Er verknüpfte seine eigenen Forschungen, die Erfahrungen und Erlebnisse der fünfjährigen Amerikareise und die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu einem großen Ganzen. So ließ der Naturforscher Muschelverkalkungen und Sternschnuppen vom Ursprung der Welt berichten. Er sprach von schwarzen Löchern, fernen Kometen, der vielgesichtigen Schönheit der Natur, wie man sie in den Tropen finden kann, aber auch in den Weiten des Eismeeres. Vom allgemein beschreibenden Naturgemälde über die „fernsten Nebelflecken und kreisenden Doppelsterne des Weltraums“ bis hin zu den „tellurischen Erscheinungen der Geographie der Organismen“, der „Pflanzen, Tiere und Menschen-Racen“, enthalten die mitreißenden Forschungsberichte genau das, was Alexander von Humboldt als seine wichtigste und wesentlichste Erkenntnis formuliert hat: die innere Verkettung des Allgemeinen mit dem Besonderen, „die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen“ – Jede Lebensform ist Teil eines komplexen Netzwerks.

Alexander von Humboldt war davon überzeugt, dass diese tiefgreifende Erkenntnis allen Menschen zugänglich ist, unabhängig von der Bildungsstufe. Und so lag ihm viel daran, kostenlosen Zugang zu seinen Lesungen und damit Bildung für alle zu ermöglichen, insbesondere auch den Frauen, die aus preußischen Universitäten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen waren. Die Miete für den Vorlesungssaal zahlte er aus eigener Tasche. Letztendlich ging der Plan Alexander von Humboldts auf: Seine universale Weltbeschreibung wurde zu einer Sensation; sie bildete den Kern seines letzten großen Werkes, des fünfbändigen und unvollendet gebliebenen „Kosmos“ (1845-62), das mit einer Auflage von über 87.000 Exemplaren zum Standardwerk wird. Der Funke des Entdeckergeistes und der forschenden Neugier, „in vielen Köpfen lebendig“, sprang über und prägt Berlin als Ort der Wissenschaft bis heute.

Autor*in
Foto von Neil MacGregor
Neil MacGregor

Neil MacGregor, britischer Kunsthistoriker, war von 2002 bis 2015 Direktor des British Museums und bis 2018 Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt Forums.