Die Idee der Dominanz in Städtebau und Architektur entspringt dem Anspruch der bauenden sozialen Kräfte, das für sie Bedeutsame in der gebauten Umwelt unübersehbar hervorzuheben. Von allen Formen städtebaulich-architektonischer Dominanz ist keine so geeignet, gesellschaftliche Bedeutungen und damit Wertorientierungen strukturell ähnlich sichtbar zu machen, wie die bauliche Dominante, nämlich die nach Lage, Größe und Gestalt fixierte Gebäudedominante in einem bestimmten sozial-räumlichen Beziehungsfeld menschlicher Ansiedlungen – zumal wenn es darum geht, das eigene gesellschaftliche Wertsystem gegen das anderer gesellschaftlicher Kräfte oder Gesellschaftsordnungen der Gegenwart und der Vergangenheit zu setzen […]. Und keine bauliche Dominante vermag das so wirkungsvoll wie die Vertikaldominante, die in den Räumen und in der Silhouette der Stade weithin sichtbar wird.
Gerade in der Geschichte des deutschen Städtebaus ist seit dem Mittelalter die Höhendominante ein bevorzugtes Mittel gewesen, zentrale gesellschaftliche Orte der Stadt baulich zu bezeichnen: die zentralen Orte den bauenden Klassen und Gruppen, ihrer institutionalisierten Macht, ihrer Ideologie, ihrer Kultur und ihres Kultes. Das zeigt auch die 750-jährige Geschichte von Berlin, die Geschichte der Höhendominanten, die für Berlin geplant und die tatsächlich gebaut wurden.
Berlin von der Bürgerstadt zur Kaiserstadt
Das aus der Mitte des 17. Jahrhunderts durch den Stadtplan von Memhardt und die Stadtansicht von Merian überlieferte Bild der Doppelstadt Berlin-Cölln zeigt mit hinreichender Genauigkeit das bauliche Ergebnis der Entwicklung der Stadt als mittelalterliche Handelsstadt und als kurfürstliche Residenz, kurz bevor sie 1665 zur Garnisonsstadt mit Festungsanlagen ausgebaut wurde, wie das am anschaulichsten die Stadtansicht von Schultz zeigt. Die Stadt war Mitte der 30er Jahre des 15. Jahrhunderts als Bürgerstadt aus zwei Marktsiedlungen – aus Berlin am nördlichen Ufer der Spree und aus Cölln auf der südlichen Spreeinsel – entstanden und im Jahre 1307 zu einem städtischen Gemeinwesen vereint worden. Noch vor 1450 setzten sich die brandenburgischen Kurfürsten hier fest. Um 1443 errichteten sie eine Burg nördlich von Cölln […] . Seitdem erfolgte der Ausbau Berlins zur Residenzstadt und der Burg zum Schloss.
Die Idee zu einer weit sichtbaren Höhendominante im Schlossbereich stammt von König Friedrich I. Nachdem er – noch als Kurfürst Friedrich III. – 1699 den Hofbildhauer Andreas Schlüter zum Schlossbaudirektor berufen hatte, gab er diesem 1701 – im Jahr der Krönung – den Auftrag, den in der nordwestlichen Ecke des Schlosses bei der Brücke über den Spreegraben gelegenen Münzturm auf 300′ (etwa 94 m) zu erhöhen, damit also den neuen Turm der Residenz höher zu bauen, als die bis dahin höchstes Bauwerke der Stadt – die Türme von St. Nikolai und von St. Marien. Eine solche neue Dominante für das Schloss erschien sicher auch deshalb wünschenswert, weil nach dem 1697 wegen Baufälligkeit notwendig gewordenen Abbruch der Türme der Domkirche der Schlossbereich in der Stadtsilhouette nicht mehr angemessen akzentuiert war. […]
[Doch] erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Höhendominanten in Berlin auch gebaut und nicht nur entworfen – und zwar an traditionellen Standorten und zu traditionellen Zwecken. Das Königshaus drängte auf eine erhöhte architektonische Repräsentanz von Schloss und Dom, die Bürgerschaft der Stadt brauchte ein neues Rathaus als Stätte und Ausdruck ihrer mit der Revolution von 1848 gewachsenen Wirksamkeit. Dass der von Friedrich II. gebaute Dom am Lustgarten den neuen Ansprüchen des Königshauses nach den Befreiungskriegen nicht mehr genügte, ist historisch verständlich. Obwohl Schinkel für den beabsichtigten Umbau des Domes in den Jahren 1816 – 1819 viele Pläne erarbeitete, kam es 1820/21 lediglich zu einer klassizistischen Umgestaltung des alten Bauwerkes. Aber kaum war der Umbau vollendet, da begeisterte sich der Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. dafür, einen neuen, großartigen Dom zu errichten. Ursprünglich war als Standort dafür die Spitze der heutigen Museumsinsel, dann aber, nachdem 1823 der Bau des von Schinkel entworfenen Museums (Altes Museum) beschlossen war, die Stelle des alten Domes in unmittelbarer Nähe des Schlosses vorgesehen. Für den Dombau auf der Spreeinsel fertigte der Kronprinz selbst Skizzen an: in der Gestalt einer doppeltürrmigen gotischen Kathedrale. Für den Standort des Domes am Schloss legte Schinkel 1827 auf Wunsch des Kronprinzen den Entwurf für eine zum Museum am Lustgarten hin orientierte dreischiffige Basilika im altchristlichem Stil vor: mit zwei, zu beiden Seiten angeordneten Türmen, die nur doppelt so hoch wie das Schloss sein sollten. Realisiert wurde davon nichts. Doch den Kronprinzen beschäftigte der Dombau auch weiterhin. Anfang der 30er Jahre skizzierte er eine in Richtung Zeughaus orientierte dreischiffige Basilika – ebenfalls im altchristlichen Stil – mit zwei zu beiden Seiten angeordneten Türmen an der Rückfront der Kirche, unmittelbar an der Spree, die mit einer Höhe von 320’ (etwa 100 rn) damals alle anderen Bauwerke Berlins überragt hätten. Noch höher wollte Wilhelm Stier den Dom bauen, als er 1840 im Sinne einer Alternative zur Konzeption des Kronprinzen eine zweitürmige Basilika mit großem Chorturm von 445′ (140 m) vorschlug – ohne jedoch Beachtung zu finden. Gottfried Stüler dagegen hielt sich an die Bauidee des Kronprinzen und entwarf 1845 den Dom als fünfschiffige Basilika mit zwei seitlichen, aber an der Vorderfront zum Lustgarten hin angeordneten Türmen, die die seinerzeit schon beabsichtigte Höhe haben sollten. Dieser Entwurf wurde zur Ausführung angenommen. Die begonnenen Arbeiten an den Grundmauern neben dem alten Dom mussten jedoch nach der Märzrevolution 1848 eingestellt werden. Ein zweiter Entwurf Stülers aus den Jahren 1864-58 sah den Dom als Zentralbau mit einer hohen Kuppel von 98 m Höhe vor – nunmehr im Stil der italienischen Hochrenaissance. Friedrich Wilhelm IV. wollte mit seinen vielfältigen Bestrebungen zum Neubau des Domes am Schloss die Idee verwirklichen, ein bauliches Monument zum Dank für die Siege von 1813 und 1815 zu errichten, zugleich wollte er unter der Losung ,,Für Thron und Altar“ die institutionelle Einheit von Staat und Kirche demonstrieren und den Berliner Dom im bewussten Gegensatz zum Kölner Dom zur Hauptkirche des Protestantismus in Preußen machen. Doch auch der Zentralkuppelbau Stülers blieb unverwirklicht. Dafür entstand nach Stülers Entwurf in denselben Jahren 1854 – 58 die einst von Eosander geplante, aber nun in Funktion und Gestalt veränderte Kuppel über dem Portal II des Schlosses mit einer Höhe von 60 m, einschließlich Laterne von 67 m: nämlich als Kuppel über einer neuen Schlosskapelle.
Inzwischen hatte die Bürgerschaft Berlins beschlossen, sich ein neues Rathaus zu bauen, das im Unterschied zu früheren Rathäusern in Berlin und Cölln als bauliche Dominante in Stadtbild nicht mehr zu übersehen sein sollte: das wegen seiner roten Klinker später so genannte ,rote‘ Rathaus. Entwürfe für Umbauten des alten Rathauses hatte bereits Schinkel 1817 angefertigt. Aber erst nach einem Wettbewerb 1857/58 erhielt Waesemann den Auftrag, ein neues Gebäude zu errichten. Er tat dies im Stile oberitalienischer Renaissance-Architektur und unter deutlichem Einfluss von Entwürfen Schinkels zu öffentlichen Bauten. Der 74 m hohe quadratische und nach oben sich nicht verengende Turm hat der Grundform, Gliederung und Proportion nach große Ähnlichkeit mit dem von Schinkel 1819 entworfenen Turm der Kirche am Spittelmarkt. Mit seiner beleuchteten Uhr war er in vielen Straßen Berlins weithin zu sehen, nicht zuletzt auch in der Straße Unter den Linden: als point de vue über dem Schloss – nicht gerade zur Freude der preußisch-deutschen Aristokratie. Dass der Rathausturm immer wieder von denen so rmissliebig betrachtet wurde, die in erster Linie auf die staatliche Repräsentanz der Hauptstadt aus waren, lag nicht einfach an seiner Höhe und an seiner Sichtbarkeit in der Stadtsilhouette. Denn weder der weitaus höhere Turm der Petrikirche, der 1852 mit 111 m Höhe als der höchste Turm Berlin: errichtet worden war, noch die Nikolaikirche, die nach einer Umgestaltung im Jahre 1885 ihren zweiten, 80 m hohen Turm erhalten hatte, boten in dieser Hinsicht Anlass zur Kritik. Der Rathausturm – zumal in seiner relativ nahen Distanz zum Schlossbereich – störte als Symbol bürgerlicher Demokratie. Noch Hitler rnissfiel dieser Turm im Stadtbild, vor allem von der Straße Unter den Linden aus, derart, dass er ihn am liebsten abgerissen hätte. Das Verhältnis zwischen dem immer wieder geplanten, aber nicht realisierten Domneubau – für den die Schlosskuppel nur vorübergehend ein Ausgleich sein konnte – und dem im Bau befindlichen Rathaus mit seinem Turm mag die Entscheidung beflügelt haben, die Errichtung des neuen Domes neben dem Schloss nun nicht länger zu verschieben. König Wilhelm I. (1861-1888), ermutigt durch den Sieg über Österreich im sogenannten Deutschen Krieg, schrieb 1867 einen Wettbewerb zum Dombau aus und stellte das Ziel, mit dem Bau eine Dankeskirche zur Erinnerung an diesen Sieg zu errichten […]. Die meisten der eingegangenen Entwürfe orientierten auf einen Zentralbau mit Kuppel. Die größte Höhe sollten mit 400’ (etwa 125 m) die Kuppeln in den Entwürfen von Ende/IBöckmann und von Gropius/Schmieden haben. Die gleiche Höhe war auch für die zwei Türme eines gotischen Langhauses im Entwurf von Statz vorgesehen. Den absoluten Höhenrekord erreichte jedoch der Dom im Entwurf von Spielberg, der einen – den Türmen am Gendarmenmarkt verwandten – Turm von 560’ (etwa 175 m) Höhe über dem kuppelgekrönten Altarraum der Domkirche vorschlug. Dies wäre der höchste Bau nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands geworden, höher als der Kölner Dom mit seinen 160 rn hohen Türmen, dessen verspätete Vollendung seit 1842 in Gang gekommen war und der nun — wie zuvor das Straßburger Münster — zum Leitbild baulicher Höhendominanz zu werden versprach. ]a, der Spielbergsche Dom wäre zu dieser Zeit sogar das höchste Bauwerk der Welt geworden.
Wie sehr dieser Geist der Höhenkonkurrenz insgesamt den Wettbewerb beherrschte, wird auch dadurch offenbar, dass die „Deutsche Bauzeitung“ die Entwürfe einheitlich im maßstäblichen Höhenverglech des neuen Domes zum Rathausturm und zum Schloss mit seiner Kuppel vorstellte, nicht aber im Vergleich zum höchsten Turm der Petrikirche. Trotz des großen Aufwandes, den dieser erste große öffentliche Wettbewerb in Deutschland mit sich brachte, und trotz der großen Beachtung, die er fand, kam es anschließend zu keiner Entscheidung für den Dombau […]. Erst unter dem Eindruck des Sieges im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der in Versailles vollzogenen deutschen Reichsgründung kam die Idee eines Siegesdornes und die Vorstellung von einer protestantischen Hauptkirche – nunmehr des ganzen deutschen Kaiserreiches – wieder ins Bewusstsein. Von den Anfang der 70er Jahre zur Diskussion gestellten Ideen verdient vor allem die städtebauliche Konzeption von Orth aus dem Jahre 1871 erwähnt zu werden. Orth schlug vor, die Straße Unter den Linden über den Lustgarten hinaus, über die Spree hinweg und durch die mittelalterliche Stadt hindurch als Kaiser-Wilhelm-Straße zu verlängern und den Dom nicht am Lustgarten, sondern im Zuge dieser Straße zu errichten. Die Straße wurde in den 80er Jahren gebaut. Die räumliche Trennung des Domes vom Schloss wurde jedoch vom Kaiser selbst abgelehnt. Sie kam auch später nicht in Betracht, als Schmülling/Halmhuber 1889 den Vorschlag unterbreiteten, den Dom etwa am Standort der heutigen Volksbühne zu bauen. Denn inzwischen hatte sich die Vorstellung gefestigt, den Dom nach dem Entwurf von Raschdorff, den Kaiser Wilhelm II. unmittelbar nach seiner Krönung 1888 zum Dombaumeister berufen hatte, zu errichten. Raschdorff hatte, nachdem seit der Weihe des vollständig aufgebauten Kölner Domes im Jahre 1880 der Drang zum Domneubau in Berlin weiter angewachsen war, bereits 1884 mit Arbeiten für den Dom begonnen. 1887/88 legte er dann ein Projekt vor, das in der ersten Variante einen mit drei Kuppeln bekrönten Dom, in einer zweiten Variante aber einen Zentralbau mit Kuppel und vier Ecktürmen vorsah. In beiden Fällen wollte er das Bauwerk mit dem Schloss durch einen Pontile über die inzwischen gebaute Straße in Richtung Marienkirche und durch einen hochaufragenden Turm anstelle des alten Apothekenflügels des Schlosses verbinden. Mit diesem Schlossturm, der bis zur Spitze 140 m Höhe haben und auch als Glocken- und Uhrturm dienen sollte, wollte Raschdorff eine alte Idee von Schlüter verwirklichen. Dass er mit ihm zugleich einen wirksamen Kontrapunkt zum Rathaus setzen wollte, offenbart die Einzeichnung dieses als Konkurrenz empfundenen Turmes in seinem Entwurf. Der Schlossturm wurde nicht gebaut, doch der Zentralbau mit Kuppel und vier Ecktürmen – wenn auch im einzelnen abgewandelt – wurde nach dem 1893 erfolgten Abriss des alten Domes in den Jahren 1894 -1905 endlich verwirklicht. Die wuchtige Kuppel erhielt eine Höhe von 76 m, bis zur Spitze der Laterne maß sie 101 m. Seitdem war der Dom die zentrale bauliche Höhendominante in Berlin: wegen seiner Größe, wegen seines Standortes am Schloss und im Zentrum der Stadt und wegen seiner Gestalt. Er war es in einem solchen Maße, dass der Bau des Stadthauses im Jahre 1911 als notwendig gewordenem Erweiterungsbau der Magistratsverwaltung mit seinem 101 m hohen Kuppelturm im Unterschied zum Bau des Rathauses fünfzig Jahre zuvor nicht mehr als Konkurrenz empfunden wurde. Und auch gegenüber den vielen anderen Kirchtürmen der Stadt, die nach der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. (1888) unter dem Patronat der Kaiserin Auguste Victoria in den Stadtbezirken rings um das alte Zentrum herum – in der Regel 50 bis 80 m hoch – planmäßig entstanden, behauptete sich der Dom souverän. Mit dem Bau des Domes und des Stadthauses endet in Berlin die bauliche Höhenkonkurrenz gesellschaftlicher Zentralität, wie sie für die gesamte Entwicklung der Stadt vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein als Ausdruck des Widerspruchs zwischen landesherrlicher und staatlicher Machtdemonstration einerseits und kommunaler Selbstbehauptung andererseits, zwischen kurfürstlicher, königlicher und kaiserlicher Residenzstadt und bürgerlicher Kommune so charakteristisch war. Aber es endete nicht das Streben nach baulicher Höhendominanz überhaupt. Im Gegenteil: es setzte sich gesteigert fort, zumal ab 1900 der normale Bebauungspegel der Innenstadt auf etwa 25 m angestiegen war. Was sich änderte, waren Funktion und Baugestalt der Höhendominanten. Dabei wurde auch die Konkurrenz zwischen Turm und Kuppel auf neue Weise fortgesetzt […].
Der Text wurde erstmals im Jahr 1986 in dem von Karl-Heinz Klingenbuch herausgegebenem Sammelband „Studien zur Berliner Kunstgeschichte“ publiziert; VEB E.A. Seemann Verlag, Leipzig.