„Wir haben die Welt ausgenutzt“

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mit Hartmut Dorgerloh, Lars-Christian Koch, Gorch Pieken und Paul Spies
DIE ZEIT: Obwohl unter dem Dach des Humboldt Forums nicht nur das Ethnologische Museum, sondern auch das Berliner Stadtmuseum und die Humboldt-Universität mit ihren Sammlungen zusammenkommen, wurde in den zurückliegenden Jahren fast ausschließlich eine Frage diskutiert: Wie gehen wir mit der kolonialen Vergangenheit um, insbesondere mit Objekten des Ethnologischen Museums, deren Erwerb fragwürdig ist? Das Humboldt Forum muss die Frage der Verstrickung Deutschlands in den Kolonialismus gewissermaßen für die ganze Nation exemplarisch beantworten.

Lars-Christian Koch: Diese Frage ist so umfassend, dass wir sie im Humboldt Forum nicht lösen werden und auch nicht lösen können. Aber wir wollen eine Diskussionsplattform sein, wir wollen die Arbeit, die wir im Ethnologischen Museum betreiben, nutzen, um genau dieses Thema, mit dem wir als Ethnologen schon immer zu tun gehabt haben, in der öffentlichen Diskussion zu halten.

Die Öffentlichkeit hatte nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen der ethnologischen Museen vorneweg gespielt und sich gefreut hätten, ihre Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen. Es sah eher umgekehrt aus: nach Getriebensein.

Lars-Christian Koch: Ich habe früher im Bereich der Musikethnologie gearbeitet, da haben wir selbstverständlich die ganze Zeit mit source communities, also mit Herkunftsgesellschaften gearbeitet und interagiert. Und wir haben Aufnahmen zurückgegeben. Für mich persönlich ist das ein sehr wichtiger Punkt: Wir sind das Humboldt Forum, wir können das Ganze noch weiter nach außen tragen. Durch den Druck von außen wurde dieser Anspruch dann noch intensiviert und geschärft, und das ist, was das Humboldt Forum in Zukunft charakterisieren wird.

Es gibt die öffentliche Erwartungshaltung: Erst wenn die Museen bluten, haben sie glaubwürdig gemacht, dass sie den Schuss gehört haben, und bluten tun sie erst, wenn sie sich von wertvollen Teilen der Sammlung trennen. Das ist der erwartete symbolische Opfergang.

Paul Spies: Also wir, das Berliner Stadtmuseum, sind auch Partner im Humboldt Forum, haben aber keine ethnologischen Objekte, können also auch nichts zurückgeben. Trotzdem werden wir die Kolonialzeit thematisieren. Wir erzählen, was nach Berlin kam, was Berlin damit gemacht hat, was von Berlin aus in die Welt hinausging. Unsere Ausstellung im ersten Obergeschoss ist damit eine Brücke zwischen der Außenwelt des Humboldt Forums und der Präsentation der Weltkulturen in den oberen Etagen. Dabei thematisieren wir immer wieder Rassismus und wirtschaftliche Ungleichheit. Wir werden auch unsere Sammlung betrachten. Da geht es aber nicht so sehr um Raub von Objekten, sondern um Material.

Alles sieht wunderbar berlinerisch aus, aber wo kommt das Holz eigentlich her und wie ist es zu uns gekommen?
Ein Beispiel?

Paul Spies: Unsere Möbelsammlung. Alles sieht wunderbar berlinerisch aus, aber wo kommt das Holz eigentlich her, unter welchen Umständen wurde es gewonnen, wie ist es zu uns gekommen? Wir haben die Welt ausgenutzt.

Hartmut Dorgerloh: Um auf die Restitutionsfrage zurückzukommen: Rückgaben spielen eine wichtige Rolle, sind bereits erfolgt, und es wird aus Sammlungen in Berlin, in Deutschland, in Europa zu weiteren Rückgaben kommen. Aber sie dürfen nicht auf symbolische Handlungen reduziert werden. Restitution allein ist noch keine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Die ist ein Prozess. In der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und mit Schicksalen wie dem der Sinti und Roma haben wir erfahren, dass dies ein intergenerationeller Prozess ist, der auch nicht einseitig erfolgen kann. Man muss mit Menschen zusammenarbeiten, die anderes erlebt oder überlebt haben, mit Nachfahren von Menschen, die unter dem Kolonialismus gelitten haben und die natürlich eine andere Perspektive besitzen.

In der alten Bundesrepublik war die Raison d’être die Erinnerung an den Holocaust und die daraus erwachsende Verantwortung. Ich habe den Eindruck, dass dieses Paradigma gerade durch ein neues erinnerungspolitisches Paradigma ersetzt wird, das da lautet: Im Bewusstsein seiner kolonialen Verbrechen handelt Deutschland nun so, wie es handelt. Wenn Sie, Herr Spies, sagen: Wir haben andere Länder ausgebeutet, dann fasst dieser Satz den neuen Blick auf Deutschland als Kolonialmacht zusammen.

Paul Spies: Wir erzählen als Berliner Stadtmuseum von weltweiter Vernetzung: Es ist nicht die Schuld von Berlin oder Deutschland, sondern von Europa gemeinsam.

Die Schuldkultur war nach 1945 eine spezielle westdeutsche Errungenschaft, um mit den Verbrechen des „Dritten Reiches“ umzugehen – immer unter Vorgabe ihrer Singularität. Um zuzuspitzen: Jetzt gibt es plötzlich eine zweite Schuldkultur.

Hartmut Dorgerloh: Ja, und zwar als eine Folge von globalem Handeln und Verstehen.

Das ist moralpolitisch ein riesiger Umbau, der da auf Ihren Schultern lastet.

Hartmut Dorgerloh: Der ist überfällig und gesamtgesellschaftlich bereits in vollem Gang. Auch weil es uns nicht egal sein kann, was in anderen Teilen der Welt passiert. Spätestens bei Themen wie Nachhaltigkeit, Klima oder Sicherheit merken wir ja: Das sind globale Herausforderungen. Und eine der Folgen ist dann eben, dass man sich auch mit seiner eigenen globalen Vergangenheit beschäftigt, als Westen, als Europa, als Deutschland. Das ist nur konsequent.

Paul Spies: Ich komme aus den Niederlanden, da passiert jetzt genau das Gleiche. Da steht die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit auch ganz im Zentrum.

Wenn wir die Kolonialzeit aufarbeiten, haben wir es auch mit gegenwärtigem Alltagsrassismus zu tun.
Welchen Anteil kann die Humboldt-Universität bei diesem Projekt leisten?

Gorch Pieken: Wichtige Impulse bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung des Kolonialismus kamen und kommen aus der Forschung. Wenn wir die Kolonialzeit aufarbeiten, haben wir es auch mit gegenwärtigem Alltagsrassismus zu tun, der seine Wurzeln oft in der Kolonialzeit hat. Leider hat man sich bei der Gründung der ersten deutschen Kolonie 1884 so gar nicht auf unsere Namenspatrone besonnen, sonst wäre das vielleicht anders gekommen.

Wird auch das Humboldt Labor sich selbstkritisch befragen?

Gorch Pieken: Unbedingt. Wir werden uns auch mit den eigenen Sammlungen auseinandersetzen, mit ihren kolonialen Präsenzen. Wenn wir beispielsweise die Nobelpreis-Urkunde von Robert Koch ausstellen, werden wir thematisieren, dass er im Jahr der Verleihung gerade in Ostafrika gewesen war und medizinische Experimente an Menschen durchgeführt hatte.

Wenn wir mit den source communities zusammenarbeiten hat das einen politischen Effekt auf diese Gemeinschaften.
Was für Experimente?

Gorch Pieken: Im Zusammenhang mit der Schlafkrankheit an Einheimischen, mit zum Teil tödlichem Ausgang. Auch unser größtes und berühmtestes Objekt, unser Lautarchiv, wird kritisch betrachtet. Der Gründer des Lautarchivs wollte ein Weltsprachenmuseum aufbauen. Es gibt eine Dialektsammlung, es gibt eine Sammlung mit prominenten Stimmen, aber die Aufnahmen aus den Kriegsgefangenenlagern des Ersten und des Zweiten Weltkriegs sind in Zwangssituationen entstanden, und der Habitus der Wissenschaftler war ein kolonialer, fußend auf den Rassentheorien der damaligen Zeit.

Hartmut Dorgerloh: Ich würde eine Sache gerne noch komplizierter machen: Wenn Paul von Berlin redet, rede ich ja immer von zwei Berlins. Denn gerade die Beschäftigung mit Afrika oder Asien weist auch eine deutschdeutsche Unterschiedlichkeit auf. Wir in der DDR dachten, wir seien des Kolonialismus unverdächtig, weil wir ja auf der Seite der jungen nationalen Befreiungsbewegungen waren, während die „Imperialisten“ im Westen saßen. Das Humboldt Forum soll auch deutlich machen, dass es in Deutschland nicht nur eine Perspektive gab und gibt.

Lars-Christian Koch: Dann mache ich es noch ein bisschen diverser …

Hartmut Dorgerloh: … noch diverser?

Koch: Ja, wenn wir unsere eigene Geschichte aufarbeiten und dafür mit den source communities zusammenarbeiten, hat das einen politischen Effekt auf diese Gemeinschaften. Wenn wir zum Beispiel mit einer kleinen Community in Costa Rica zusammenarbeiten, dann bekommt diese vor Ort eine sehr viel stärkere Identität als benachbarte Communitys, von denen wir keine Sammlung haben. Das heißt, wir verändern politische Situationen.

Wie darf man sich das konkret vorstellen?

Lars-Christian Koch: Wir waren in Costa Rica bei den Boruca, von denen wir zwei Masken aus dem Jahr 1906 haben. Die wollen sie gerne zurückerhalten, weil sie keine mehr besitzen. Also sind wir vor Ort gewesen und haben einfach erst einmal gefragt: Warum? Was steckt dahinter? Die Masken sind damals extra für den Verkauf hergestellt worden. Man hat aber dort keine Exemplare zurückbehalten. Das eigentliche Interesse war nicht so sehr, die Objekte zurückzubekommen, sondern sich das Wissen wieder anzueignen, um sie nachbauen zu können.

Was heißt es eigentlich für ein globales Museum, dass wir diese fernen Länder immer nur durch ihre indigenen Gruppen repräsentieren, als gäbe es da gar keine normale zeitgenössische Gegenwart? Das ist ein bisschen, als würde man in einem Weltkulturmuseum in Lagos Deutschland durch eine Schuhplattlergruppe repräsentieren. Kann man machen, ist auch ein schöner Tanz, aber ist das wirklich Deutschland?

Hartmut Dorgerloh: In einem Museum in Japan ist es genauso, Lederhose und Bierkrug repräsentieren Deutschland und bedienen das Klischee. Uns geht es aber schon darum, zu zeigen, was zum Beispiel heute in Amazonien passiert – politisch, sozial, ökonomisch und auch kulturell. Und die Brände in Australien sind uns genauso nah. Die Sammlungen sind ja prädestiniert dafür, sich mit den Fragen, die uns heute bewegen, zu beschäftigen. Es geht immer um die Frage: Warum ist das heute überhaupt relevant? Und für wen? Und das geht nur in Zusammenarbeit mit den Urhebergesellschaften, bei der am Ende vielleicht etwas ganz anderes herauskommt als erwartet. Ende 2021 eröffnen wir eine Ausstellung über die Omaha, eine First Nation in Nebraska. Die Objekte aus den ethnologischen Sammlungen, die wir in der Ausstellung als Ergebnis gemeinsamer Arbeit mit der Community zeigen werden, sind in den 1880er-Jahren von den Omaha selber zusammengestellt und nach Berlin verkauft worden. Auch unter dem Gedanken: Das muss gerettet werden, weil es uns bald nicht mehr gibt. Das hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Deshalb lautet die Botschaft heute: Wir sind noch da, unsere Kultur ist noch da, unsere Sprache ist noch da! Und es gibt noch Objekte aus unserer eigenen Geschichte.

Um eine solche Institution zu vermarkten, braucht es Schlagwörter. Das zentrale Schlagwort am Anfang war Kosmopolitismus, jetzt ist es Kolonialismus.

Lars-Christian Koch: Kosmopolitismus wurde durch Kolonialismus ergänzt, würde ich sagen.

Paul Spies: Mit dem Postkolonialen kann ich gut leben.

Hartmut Dorgerloh: Es hat auf jeden Fall einen Lernprozess gegeben. Wir wollen nicht die Welt erklären, sondern eine breite Öffentlichkeit zu Fragen anregen, auch alle, die erst mal gar keine Ahnung haben, was sich hinter den Fassaden des Schlosses verbirgt. Und dies gern aus einer globalen Perspektive. In welcher Welt wollen wir leben? Welche Rolle spielt Wissenschaft in ihr?

Gorch Pieken: Das Verbindende sind unsere Unterschiede, denn wir sind sehr unterschiedliche Partner. Und dadurch gibt es etwas in diesem Haus, was sonst in keinem anderen Kulturgebäude selbstverständlich ist: reflexive Interdisziplinarität. Und so handeln wir auch Widersprüche untereinander aus.

Dann erzählen Sie mal von den Widersprüchen der beteiligten Institutionen. Wo sind die herausfordernden Schmerzpunkte?

Gorch Pieken: Wir verstehen uns nicht als Museum, sondern als Forum, und trotzdem haben wir im Gebäude bedeutende Museen. Wenn das Ethnologische Museum in einem Jahr eröffnet, dann als Haus von Weltrang, aus der ersten Reihe der Museen. Das Humboldt Labor hingegen leistet einen Beitrag zur Demystifizierung des Kulturmusters Museum. Wir machen vieles ganz anders, als es in Museen üblich ist, bei uns dürfen Objekte bewegt, gedreht, berührt werden. Die alte Museumsformel „Immer an der Wand lang“ wird bei uns ersetzt durch ein Denken in Netzwerken.

Das Humboldt Forum ist kein Museum.
Wenn Sie das Humboldt Forum beschreiben, fallen immer Begriffe wie Vielstimmigkeit, Diversity, Transdisziplinarität, Postkolonialismus. Ist es eine Hypothek, wenn ein Museum mit so einer starken moralisch-pädagogischen Mission ausgestattet ist?

Hartmut Dorgerloh: Das Humboldt Forum ist kein Museum.

Paul Spies: Unser Kontinuum ist unsere Sammlung. Jedes Jahrzehnt betrachtet diese Sammlung neu. Natürlich ist das Zeitgeist, aber dafür kann ich nichts – ich kann ja nicht so weitermachen, als lebten wir noch in den Sechzigerjahren.

Mit welcher Ausstellung wird das Humboldt Forum wann eröffnen?

Hartmut Dorgerloh: Wir eröffnen in drei Etappen, ab September mit den ersten beiden Etagen, mit dem Humboldt Labor und dem Stadtmuseum, und mit den ersten Sonderausstellungen, unter anderem zum Thema Elfenbein, Elefant und Mensch. Außerdem Schlüterhof, Gastronomie und Shops und, ganz wichtig: Geschichte des Ortes, vom Dominikanerkloster über Schloss, Palast der Republik bis heute.

Wann eröffnen das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst?

Hartmut Dorgerloh: Erst in der zweiten Etappe mit den Westflügeln der zweiten und dritten Etage im Frühjahr 2021, zweites Quartal. Das hängt damit zusammen, dass erst nach der Baufertigstellung diesen Sommer die vielen Objekte eingebracht werden können. Dann ist auch die Dachterrasse mit Restaurant offen. Und die dritte, finale Etappe ist Ende 2021, dann kann man in den Ostflügeln auch weitere Bereiche der Sammlungen sehen.

Kann noch etwas schiefgehen mit der Baufertigstellung diesen Sommer?

Hartmut Dorgerloh: Wir kennen die Herausforderungen, die noch zu lösen sind. Wir sind im Endspurt, und ich gehe davon aus, dass uns nicht die Puste ausgeht.

Woran wollen Sie bei der feierlichen Eröffnung der ersten Phase gemessen werden?

Hartmut Dorgerloh: Das Haus ist riesig und das Angebot so vielfältig, dass es gut ist, erst mal mit einem Teil anzufangen, das muss man klar sagen. Und auch dass bestimmte Themen, die das Publikum erwartet, wie die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Afrika, erst im Frühjahr 2021 kommen. Das Humboldt Forum entfaltet sich, und wenn ich jetzt die Blüte sehe, muss ich auf den Apfel noch etwas warten.

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Autor*innen
Gorch Pieken

Gorch Pieken ist Historiker und Filmproduzent. Seit April 2018 ist er leitender Kurator des Humboldt-Labors am Humboldt Forum.

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Hartmut Dorgerloh

Prof. Dr. Hartmut Dorgerloh ist Generalintendant und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss. Der Kunsthistoriker und Kulturmanager lehrt seit 2004 als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Lars-Christian Koch

Prof. Dr. Lars-Christian Koch ist seit Anfang 2018 Direktor für die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum. Der Musikethnologe war zuvor komissarischer Leiter des Ethnologischen Museums.

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Paul Spies

Paul Spies ist Kunsthistoriker und Archäologe der Antike. Er war seit 2009 Direktor im Amsterdamer Stadtmuseum und ist seit 2016 Direktor des Stadtmuseums Berlin und Chef-Kurator des Landes Berlin im Humboldt Forum.