Frau Wulf, als Autorin und Journalistin haben Sie sich immer wieder mit der Wissenschaftsgeschichte an der Schwelle zum 19. Jahrhundert beschäftigt. Was macht diese Zeit für Sie so spannend?
Andrea Wulf: Meine Bücher, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, verstehe ich im Kern als Reflexionen über das Verhältnis von Mensch und Natur. Gerade die Zeit der Aufklärung und der frühen Romantik – also die Zeit Alexander von Humboldts – prägt bis heute unsere Sicht auf die Welt. Die Art und Weise, wie wir heute zum Beispiel mit der Natur umgehen, ist im entscheidenden Maße im 18. und 19. Jahrhundert geprägt worden. Damals setzte sich die Vorstellung durch, dass der Mensch die Natur mittels Wissen kontrollieren könne. Zudem schuf die Industrialisierung eine Entfremdung von der Natur. Wenn wir also wirklich begreifen wollen, wie wir heute ticken, dann müssen wir die Zeit Alexander von Humboldts besser verstehen lernen.
Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man Alexander von Humboldt nur aus seiner Zeit heraus begreifen kann?
Ja, anders geht das nicht. Ich werde ja gerne als die Humboldt-Biografin bezeichnet. Aber meine Biografie heißt ja im Untertitel „Die Erfindung der Natur“. Es ist also nicht nur eine Biografie Humboldts, es ist die Darstellung einer Idee – der Idee, dass Natur und Welt ein lebendiger Organismus sind. Natürlich ist Alexander von Humboldt derjenige, der diese Vorstellung quasi erfunden hat; aber mein Buch enthält zugleich auch acht weitere Mini-Biografien von Zeitgenossen, die Humboldt mit dieser Idee beeinflusst hat. Denken Sie nur an Leute wie Thomas Jefferson oder Johann Wolfgang von Goethe. Man kann Personen der Zeitgeschichte niemals aus ihren historischen Kontexten herausreißen; auch Alexander von Humboldt nicht. Ich werde in letzter Zeit immer wieder gefragt, was Humboldt wohl zu diesem oder jenem Problem der Gegenwart gesagt hätte. Das weiß ich natürlich auch nicht. Das einzige, worauf ich verweisen kann, sind Aspekte aus Humboldts Schaffen, die uns auch heute noch in unserem Denken inspirieren können.
Der zeit- und ideengeschichtliche Kontext ist zum Verständnis eines Lebens sicherlich wichtig. Dazu gesellt sich oft aber noch ein sehr spezifischer Charakter. Was für ein Typ war dieser Alexander von Humboldt eigentlich?
Wenn ich nur ein Wort hätte, mit dem ich seinen Charakter beschreiben sollte, dann würde ich das Wort „Rastlosigkeit“ wählen. Humboldt hat von sich selbst behauptet, er fühle sich zuweilen, als würde er von tausend Säuen gejagt. In ihm sei ein Treiben, dass er fürchte, er würde den Verstand verlieren. Alexander von Humboldt war also ein Getriebener. Wenn ich dann noch ein zweites Wort hätte, dann wäre es „Neugier“. Humboldt will erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Er wird dabei angetrieben von einer großen Liebe zur Natur. Zwar trägt er auf seiner Reise durch Amerika 42 wissenschaftliche Messinstrumente mit sich herum; auf der anderen Seite aber betont er immer wieder, dass man die Natur fühlen müsse. Das ist für mich eine der ganz großen Botschaften Humboldts. Meiner Meinung nach fehlt das den heutigen Wissenschaften. Wir reden über Daten; aber keiner traut sich über Gefühle zu reden. Wir werden aber nur dauerhaft schützen und bewahren, was wir auch lieben.
Dass Humboldt der Denker der großen Zusammenhänge war, das wird Ihnen sicherlich schon am Beginn Ihrer Recherche bewusst gewesen sein. Was aber war bei der Beschäftigung mit diesem Ausnahmetalent für Sie selbst die größte Überraschung?
Die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft. Ich kannte Humboldt zuvor nahezu ausschließlich als Wissenschaftler. So habe ich ihn verstanden. Die Brücke aber, die er zwischen Gefühl und Erkenntnis, zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven geschlagen hat, die war für mich wirklich eine Überraschung. Darin lag auch der Grund dafür, dass ich nach Die Erfindung der Natur noch ein zweites Buch über Humboldt gemacht habe. Ich wollte hier den Künstler etwas mehr in den Fokus rücken. Ich denke nämlich, dass uns heute diese selbstverständliche Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft fehlt. Ich selbst bin das beste Beispiel: Schon in der Schule hat man mir immer gesagt, dass meine Talente auf der künstlerischen und nicht auf der logisch-wissenschaftlichen Seite lägen. Heute schreibe ich Bücher über Wissenschaftsgeschichte. Man hat mich also vollkommen falsch unterrichtet. Wir drängen unsere Kinder bereits in der Schule in die Kategorien „künstlerisch-kreativ“ und „mathematisch-wissenschaftlich“. Das ist ein großes Problem unserer Gesellschaft.
So gesehen ist es vermutlich nur konsequent, dass man mit dem Humboldt Forum im Berliner Schloss ein Ausstellungshaus, das Kunst und Wissenschaft zusammendenken will, nach den Gebrüder Humboldt benannt hat, oder?
Das muss sich erweisen. Wenn es tatsächlich gelingt, dass in dem Haus interdisziplinär gedacht und gehandelt und eine holistische Sicht auf die Welt gezeigt wird, dann wäre das großartig. Das aber wird am Ende nur die Praxis zeigen.
Interview: Ralf Hanselle