Über die Humboldt-Universität hatte ich schon viel gelesen und gehört, als ich sie das erste Mal betrat. Trotzdem war ich überrascht. Das ist ja ein Museum, dachte ich. Mein Blick fiel auf die Statuen vor dem Hauptgebäude, die wie Wachleute die Universität und die Träume ihrer Studenten beschützen.
Da draußen vor der Mauer sitzen, in Stein gehauen, Wilhelm und Alexander von Humboldt. Tagein, tagaus erleben sie, wie junge Leute die Universität betreten, die sie aufgebaut haben. Sie haben ihren Platz so dicht an der Straße Unter den Linden, dass sie die Touristen belauschen können, die auf dem Weg zum Brandenburger Tor hier vorbeischlendern. Manche bleiben stehen und machen ein Selfie mit einem von beiden. Einige wagen es sogar einzutreten und das Gebäude anzusehen, das schon so viel erlebt hat – auch düstere Zeiten: Im Nationalsozialismus, während des Zweiten Weltkriegs und unter sowjetischer Besatzung waren die humanistischen Werte und die Ideale von Forschung und Lehre, die von der Humboldt-Universität ausstrahlen, tief verschattet.
Ich gehe oft zur Humboldt-Uni, setze mich in den Hof, schaue die Statuen und die Gesichter an, blättere durch die Second-Hand-Bücher, die vor dem Zaun angeboten werden, und mache mir so meine Gedanken über Wilhelm, den großen Philosophen, und seinen Bruder Alexander, den Forscher. Manchmal habe ich dann das Gefühl, dass sie zu mir sprechen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Sie sprechen Deutsch, und ich noch nicht. Schade.
Einmal fand ich den Mut, mich in einen Hörsaal zu setzen. Studentinnen und Studenten treffen ein. Dann kam der Professor, ein netter Mann, nicht so oberernst wie die Professoren bei uns in Damaskus, die sich selbst für Götter halten. Er blieb während der ganzen Vorlesung freundlich. Ich hatte Angst, dass er mich fragen könnte, wer ich sei und was ich hier wolle – so wie damals, vor 20 Jahren, in Syrien, als ich mich an der Kunsthochschule eingeschlichen hatte und ein Professor mich erwischte. Er drohte damit, die Wachmänner zu rufen und mich festnehmen zu lassen. Ich beteuerte, ich sei nur ein Abiturient und neugierig, eine Universität von innen zu sehen. Ich flehte und bettelte. Schließlich ließ er mich gehen.
Meine erste Vorlesung an der Humboldt-Uni war wunderbar. Ich weiß nicht, worum es ging. Aber ich sah es in den Augen der Studentinnen und Studenten und im Lächeln des Professors, der sie wie Freunde behandelte. Ein Student fragte mich auf Deutsch: “Hast Du das Buch?”, ich antwortete auf Englisch: “Sorry, I don’t understand.” Er sagte: “Don’t worry, enjoy!
Wenn man durch die Humboldt-Universität schlendert, hat man das Gefühl, dass die Geschichte überall in den Korridoren ruht, und die Augen der Größen der deutschen Literatur, Philosophie und Naturwissenschaften einem folgen – Goethe, Schiller, Heine, Turner, Jacobi, Fichte, Schleiermacher, Savigny sind zugegen. Zugleich entsteht in den Vorlesungssälen die Zukunft, sie rinnt durch die Finger der Studentinnen und Studenten, die ihre Stifte halten und eifrig mitschreiben.
Wilhelm und Alexander von Humboldt haben eine Universität geschaffen, an der schon Tausende ihren Abschluss gemacht haben. Darunter sind 29 Nobelpreisträger. Der Philosoph und Politiker und sein naturwissenschaftlich orientierter Bruder haben ein Wahrzeichen hinterlassen, das künftigen Generationen Orientierung gibt. Oft, wenn ich im Sonnenschein vor der Universität sitze und meine stillen Gespräche mit Wilhelm und Alexander führe, versuche ich mir vorzustellen, was diese beiden Professoren tun würden, wenn sie heute leben würden – mit all den Mitteln für Kommunikation und Forschung. Sie würden sicher viel verändern. Aber man kann auch sagen: Sie sind noch immer lebendig und bei uns. Sie haben mit dieser Universität die Türen zur Wissenschaft geöffnet, die ein Tor zur ganzen Welt ist.